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Vom Late Mover zum Wertetreiber

Trotz mancher Besonderheit wird sich die Gesundheitswirtschaft im Corporate Learning nicht von den Megatrends abkoppeln können. Unser Autor, der mit einem Krankenhausprojekt den diesjährigen E-Learning-Award gewonnen hat, beschreibt, warum digitalen Lernangeboten auch im Krankenhaus die Zukunft gehört und warum „Bildung to go” nur der Anfang einer Rundumerneuerung der medizinischen Versorgung ist. Von Werner Povoden

Die Fokussierung auf den Term E-Learning ist zwischenzeitlich aufgrund der Anforderungen und der Art und Weise, wie in Unternehmen, vor allem in Unternehmen des Gesundheitswesens, gelernt wird, kritisch zu sehen. In der Realität erfolgen die Lernprozesse während der Arbeit innerhalb aktueller Prozessabläufe. Diese Lernprozesse werden unter dem Begriff „Workplace Learning” zusammengefasst und beinhalten synchrone kollaborative und kooperative Lernprozesse.

Foto: Fotolia

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Bei der Entstehung von Problemen während eines aktuellen Arbeitsprozesses ist es deshalb wichtig, dass die durch elektronische Medien initiierten Kommunikationsprozesse einfach zu bedienen und ohne großes technisches Hintergrundwissen zu realisieren sind. Nur so ist die Akzeptanz unter den Mitarbeitern und somit die Performance für virtuell-kollaborative Workplace-Learning-Szenarien zu gewährleisten. Mit einem qualitativ hochwertigen Qualifizierungsangebot, das auf solche Szenarien mit elektronischen Medien aufgebaut ist und nicht nur für das Personal einer Klinik zur Verfügung steht, baut sich eine Klinik eine eigene Wertschöpfungskette auf. Damit wird eine Klinik für potenzielle und engagierte Mitarbeiter interessant und wirkt dem Trend des Wetteiferns um ausländisches medizinisches Personal entgegen.

Aufgrund der Tatsache, dass Assistenzärzte und auch qualifizierte Fachärzte sowie Pflegekräfte ihre Weiterbildungs- beziehungsweise Arbeitsstätte bevorzugt in Ballungszentren suchen,ist es ein weiteres Argument für die Etablierung hochwertiger Qualifizierungsangebote mit elektronischen Medien. Denn der zuvor skizzierte Trend hat zur Folge, dass Kliniken in Flächenregionen weniger wahrgenommen werden und sich somit die Besetzung von ärztlichen Stellen schwierig gestaltet. Organisiert eine Klinik ihr Wissens- und Lernmanagement vorausschauend und versetzt ihre Mitarbeiter dadurch in die Lage, Probleme von heute zu lösen, generiert sie Chancen und zugleich Wettbewerbsvorteile im Kampf um qualifizierte Fachkräfte. Denn mit solchen Angeboten, in Verbindung mit einer entsprechenden Unternehmenskultur, macht sich die Klinik als Arbeitsstätte nicht nur im ländlichen Raum attraktiv.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Fragestellung, wie sich disruptive Technologien auf die ärztliche und pflegerische Fort- und Weiterbildung auswirken und wer die Profiteure dieser Entwicklung sind, immer mehr an Bedeutung. Der letzte Teil der Frage lässt sich leicht beantworten. Eine präferierte Stellung kommt dabei den Kliniken zu, die sich den Herausforderungen der digitalen Transformation stellen und die disruptiven Technologien nicht als wucherndes Krebsgeschwür betrachten. Der erste Teil der Frage dagegen ist nicht so einfach zu beantworten. Hier spielen die verschiedenen Strukturreformen des Gesundheitswesens und weitere Einflussfaktoren wie disruptive Technologien und Prozesse eine wichtige Rolle.

Transformation und Disruption
Prof. Dr. Christiane Woopen, bis Ende April Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, hat den Unterschied zwischen den Begriffen Disruption und Transformation transparent beschrieben. Sie setzt in ihrer Erklärung bei den Arbeitsprozessen an, die sich durch die Einführung und Implementierung digitaler Technologien verändern. Die Phasen der Veränderung bezeichnet sie als Übergänge und sagt, wenn diese Übergänge so umfassend sind, dass sich nicht nur ein neuer Zustand, sondern auch eine neue Form entwickelt, kann man im engeren Sinne von einer Transformation, also einer Umgestaltung von bestehenden Prozessabläufen, sprechen.
Werden jedoch ganze Lebens- und Gesellschaftsbereiche, so Frau Professor Woopen weiter, so tief greifend verändert, dass sich auch ihre jeweiligen Funktionsprinzipien ändern, dann kann man dies im Gegensatz zur Transformation als Disruption bezeichnen.
In diesem Sinne ist die Umstellung der Fort- und Weiterbildung in den Kliniken von traditionellen Formen auf elektronische Medien ein disruptiver Vorgang, der das Selbstverständnis und das Verhalten der Mitarbeiter in seiner innersten Struktur betrifft. Mit der Einführung der DRG im Jahre 2003 liegt ein transparentes Beispiel vor, dass nicht nur die Technologien, sondern auch theoretische Konstrukte einen disruptiven Charakter aufweisen, die Prozesse im Sinne der Transformation verändern.

Beim Prozess der digitalen Transformation, also der Umsetzung und Einführung von Fort- und Weiterbildungsszenarien mit elektronischen Medien, sind Kliniken eher „Late Mover”. Denn die digitale Transformation ist kein schleichender Wandel, sondern erfordert ein radikales Umdenken in Bezug auf die Fort- und Weiterbildung. Digitale Transformation ist somit eine tiefgreifende Veränderung, die gleichzeitig verschiedene Bereiche wie Technologie, ICT-Infrastruktur, Dienstleistungen, Customer Experience und Ablaufprozesse erfasst, um nur einige Bereiche zu nennen, in denen Fort- und Weiterbildung zusätzlich zu der ärztlichen Weiterbildung ansetzt und ansetzen muss.

Während Wirtschaft und Industrie – und insbesondere global agierende Unternehmen – das Lernen mit elektronischen Medien längst adaptiert haben, tun sich Kliniken mit der Akzeptanz dieser Entwicklung noch schwer. Anders als stetig fortschreitende Innovationen fordern disruptive Innovationen die schöpferische Zerstörung von bestehenden und bewährten Strukturen. Diese Forderung wird auch von der nachrückenden Generation von Ärzten und Pflegekräften vertreten. Sie gehen mit Lernen und Bildung ganz anders um als die Generation, die schon seit Jahren im Berufsleben steht. So gesehen, hat die Zukunft des Lernens, die ihren Ausdruck findet in den Begriffen E-Learning, Blended Learning, Bildung 4.0, Wirtschaft 4.0, eHealth, mHealth, digitaler Patient, Telemedizin oder digitale Transformation, schon längst begonnen.

Watson, ein Superrechner von IBM, analysiert drei Millionen Seiten Fachliteratur in drei Sekunden. Dazu benötigt selbst ein Team von Ärzten mehrere Jahre. Diese Herausforderung allein stellt an den Arzt die essenzielle Frage, was seine Kernkompetenzen in zehn oder 20 Jahren sein mögen. Denkt man diese Frage unter dem Aspekt weiter, dass es heute schon möglich ist, die Ergebnisse von Watson und somit die Leistungsfähigkeit dieses Supercomputers an ein Smartphone oder an ein Tablet anzubinden, dann dauert es wohl keine fünf Jahre mehr, bis die Nutzermobiler Geräte darüber medizinische Diagnosen abrufen können. Dies ist nur ein Beispiel, das die Qualifizierung des ärztlichen und pflegerischen Personalstangieren wird. Ein weiteres findet sich im zweiten Gesundheitsmarkt. Dieser ist überwiegend privatwirtschaftlich organisiert und somit flexibler und agilerals die starren, gewachsenen Strukturen der Kliniken.

Mobile Health

Produkte, die im zweiten Gesundheitsmarkt zur Verfügung gestellt werden, vereinen schon heute Qualifizierung, Weiterbildung und arbeitsplatzbezogenes Arbeiten in einer globalen Dimension, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen sind sie durch ihre Konzeption weltweit verfügbar, und zum anderen adressieren sie durch ihre speziellen Eigenschaften den Bereich der personalisierten Medizin. Wie am Beispiel Watson aufgezeigt, werden in diesem Markt die mobilen Endgeräte als Schlüsseltechnologie angesehen. Die Durchdringung mit mobilen Endgeräten in den Industrieländern ist allgegenwärtig und gewinnt rapide an Akzeptanz in den sich schnell entwickelnden Regionen wie dem asiatisch-pazifischen Raum, Lateinamerika und Afrika. Die zunehmende Präsenz vonSmartphones mit Technologien wie 3G-, 4G- und 5G-Netzwerken wird den Einsatz der mobilen Endgeräte in den meisten Sektoren, insbesondere in den Gesundheitssystemen, vorantreiben.

So gesehen, führt der technologische Fortschritt letztendlich zu einem Übergang von der Krankenhausversorgung zur persönlichen medizinischen Beratung, Pflege und Diagnostik. Dazu kommt, dass das Aufkommen einer neuen Gerätegeneration von Medizinprodukten es den Gesundheitsdienstleistern leichter macht, hochwertige medizinische Leistungen zu niedrigeren Kostenanzubieten. Mobile medizinische Geräte liefern, unabhängig vom jeweiligen Standort, adäquate und systematische Aufzeichnungen von biomedizinischen Signalen wie Beatmungsparameter, Glukoseanalysen, EKG-Aufzeichnungen und Blutdruckmessungen.Tragbarkeit, Automatisierung, leichte Bedienbarkeit und Personalisierung sind von daher die attraktiven Faktoren, mit denen die Akteure im zweiten Gesundheitsmarkt gegenüber den Kliniken einen strategischen Vorteil erlangen. Von daher ist nicht nur der mobile Zugang, sondern auch das Bereitstellen von virtuell-kollaborativen Fort- und Weiterbildungsressourcen weltweit überaus wahrscheinlich. Die in diesem Markt vorherrschenden Innovationen lassen sich in fünf Segmente aufteilen. Diese sind:

  • Globaler Markt nach Gerätekategorien: Blutglukose-Messgeräte, Blutdruck-Messgeräte, Pulsoximeter, neurologisches Monitoring/Überwachungssysteme, Herzüberwachungssysteme, Apnoe- und Schlafüberwachungssysteme, tragbare Fitness-Sensoren und Herzfrequenz-Messgeräte, andere …
  • Globaler Markt nach Dienstleistungen: Wellness, Prävention, Beratung, Diagnostik, Überwachungssysteme und Lösungen zur Stärkung der Gesundheitssysteme sowie Einholung von Zweitmeinungen, …
  • Globaler Markt nach Interessengruppen: Mobilfunkbetreiber, Gerätehersteller, Gesundheitsdienstleister, Software-Produzenten/-Vertreiber, Versicherungswirtschaft, Politik, Behörden, …
  • Globaler Markt nach therapeutischen Segmenten: kardiovaskulär, Diabetes, Atemwege, Neurologie, virtuell-kollaborative Röntgendiagnostik, …
  • Globaler Markt nach geografischen Gesichtspunkten: Nordamerika, Europa, asiatisch-pazifischer Raum und Rest der Welt.

Bei inhaltlicher Betrachtung der aufgeführten Segmente bedeutet dies für die Fort- und Weiterbildung, dass sich Kliniken in Bezug auf die Einführung von E-Learning beziehungsweise von Maßnahmen zur Qualifizierung mit elektronischen Medien beweglich, experimentierfreudig und problemorientiert aufstellen.

Dies bedeutet weiter, dass die Kliniken und Gesundheitszentren die bevorstehenden und unvermeidbaren disruptiven Veränderungen aufgreifen müssen, um im Wettbewerb mit den privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen des zweiten Gesundheitsmarkts bestehen zu können. Das Festhalten an traditionellen Strukturen und Abläufen macht sie sonst nur zum Kandidaten der Strukturreform.

Die Frage, die sich abschließend stellt, lautet nicht, ob die skizzierten disruptiven Technologien in den ersten Gesundheitsmarkt eindringen, sondern, wie tief sie das tun und wie umfangreich sie fossilisierte Prozessabläufe infrage stellen.


Download:
Artikel „Digitale Strategien – Vom Late Mover zum Wertetreiber“, 08/2016  f&w führen und wirtschaften im Krankenhaus (PDF, ca. 691 KB)


Der Autor hat mit dem Projekt „Virtuell-kollaborative Online-Sprachensuite” zur Vermittlung von Sprachkompetenz für ausländische Ärztinnen und Ärzte den diesjährigen E-Learning-Award in der Kategorie „Kollaboratives Lernen” gewonnen. Die fachliche Betreuung in diesem Projekt erfolgt durch ein Ärzteteam der Fachrichtungen Orthopädie und Unfallchirurgie unter der Leitung von Dr. Sabine Povoden, Chefärztin der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Klinikums Gifhorn.

Werner Povoden
Fach- und Wirtschaftsinformator
MBA eLearning & Wissensmanagement
Arbeitskreis für Information Rheinland-Pfalz/Eifel
Adolf-Meier-Straße 68
32758 Detmold
E-Mail: info@cspcampus.de

Veröffentlicht am 29. September 2016 in Presse